Entschleunigung, Einkehr, Selbstreflexion
Autor: Oliver Parodi
29.01.2024 – Entschleunigung, Resonanz, Reflexion und Suffizienz – das sind wichtige Bausteine einer Nachhaltigkeitstransformation. So wichtig sie sind, so schwierig ist es, sie zu verwirklichen. Das Team des Karlsruher Transformationszentrums widmet sich 2024 programmatisch diesem Thema und hinterfragt das eigene beschleunigte Tun im Selbstexperiment.
Höher schneller weiter mehr. Grenzenloses Wachstum. Wir leben in einer Welt der Steigerungslogiken und steten Beschleunigung. Produktion, Arbeitstakt, Informationsflut, Möglichkeiten, Ansprüche und Ereignisdichte im Alltag nehmen zu. Immer mehr kann und soll geleistet werden. Immer deutlicher aber werden auch die Folgen und Fallstricke einer sich stetig beschleunigenden Moderne – in der Umwelt, der Gesellschaft und bei uns selbst.
Viele können mit der Geschwindigkeit schon jetzt nicht mehr mithalten, werden vom Zug der Zeit aus der Bahn geworfen, brennen oder steigen bestenfalls aus. Hinzu kommen die Anforderungen einer nötigen und drängenden Nachhaltigkeitstransformation: Wir müssen unser Leben und Wirtschaften grundlegend ändern. Diese Große Transformation bringt neben Unsicherheit auch extreme Anstrengungen mit sich. So vieles gilt es, möglichst sofort umzubauen, zu reorganisieren, zu tun. Auch wir – oder vielleicht auch gerade wir – am KAT zerbrechen fast an dieser Mammutaufgabe, drohen in hektischen Aktivismus oder Apathie zu verfallen. Die Not wächst. Dementsprechend wird auch der Ruf nach Suffizienz, Degrowth, Resonanz und Entschleunigung immer lauter.
Dabei sind Entschleunigung und Resonanz (H. Rosa) sowohl Bedingung als auch Bestandteil einer Nachhaltigen Entwicklung; und Degrowth, beziehungsweise Suffizienz – sprich, ein Weniger, Genügsamkeit und das rechte Maß zu finden – eine zentrale Nachhaltigkeitsstrategie. Wie also umgehen mit der Notwendigkeit der Entschleunigung in einer sich stets beschleunigenden Welt? Wie umgehen mit dem Ruf nach Weniger angesichts der erforderlichen Anstrengungen der Transformation?
Und schlimmer noch, auch wir selbst tragen ja möglichst schnell möglichst viel zur Nachhaltigkeitstransformation bei – und beschleunigen so uns und unsere Umwelt mit, sorgen für eine noch höhere Ereignisdichte und noch mehr Stress. Gänzlich absurd wird es dort, wo wir versuchen, möglichst schnell möglichst viel zu entschleunigen, immer mehr immer tollere Projekte und Aktivitäten beispielsweise im Bereich „Personaler Nachhaltigkeit“ durchzuführen; einem Feld, wo es zentral um Beziehung, Wahrnehmung, Achtsamkeit und Selbstreflexion geht, man sich einlassen muss und viel Zeit benötigt.
Mit dem eigenen Streben nach Nachhaltigkeit findet man sich plötzlich inmitten einer klassisch griechischen Tragödie wieder: Man verfängt sich in Widersprüchen und Dilemmata, wird mit der eigenen Herkunft und dem Eingebundensein in ein größeres Schicksal konfrontiert, und vereitelt (un)wissend selbst das Erreichen des so sehnlich erwünschten Zieles. Das Streben nach Nachhaltigkeit frisst seine Kinder – und Ideen.
Willkommen im KAT.
Ab sofort werden wir uns verstärkt und programmatisch in unserem knapp zwanzigköpfigen Team dem Thema „Entschleunigung, Einkehr, Selbstreflexion“ und vor allem den damit verbundenen Spannungsfeldern und Widersprüchen widmen. Wir machen das Thema zum Jahresmotto unserer eigenen Arbeit – und das KAT selbst zum Erkundungs- und Versuchsfeld.
Wir haben uns im Team auf Maßnahmen (selbst das Wort erzeugt ja schon Stress) des Tuns und Lassens verständigt, üben uns im Weniger, Neinsagen und Möglichkeiten-nicht-wahrnehmen und organisieren mehr Raum und Zeit für Stille und Einkehr. Zum Beispiel erhöhen wir die Zahl unserer „Fokuswochen“, der Stillezeiten und der Meeting-freien Tage (auch spannend, dass ich zur Darstellung nicht eine Formulierung mit „Reduktion“, sondern mit „Erhöhung“ wähle) und reduzieren unsere Veranstaltungen und unsere Kommunikation mit außen (was uns echt schwerfällt, weil es für unsere Arbeit essenziell wichtig ist).
Vor allem aber erhöhen wir die Aufmerksamkeit auf den Themenkomplex selbst, spüren den Spannungsfeldern nach, möchten erkunden, wo diese im Innen und Außen erzeugt werden, wie genau sie (auch sprachlich) beschaffen sind, was dahintersteckt und wie man ihnen begegnen kann. Dafür werden wir entsprechende thematische Veranstaltungen durchführen und bilden im Team paarweise „Buddies“, um uns zu den gemachten Erfahrungen auszutauschen, zu begleiten und zu reflektieren. Dabei geht es nicht nur um ein schlichtes Weniger, sondern auch und vor allem um ein anderes Zeitempfinden, um das Aufspüren, Hinterfragen und gegebenenfalls Lösen von Gewohnheiten, um veränderte Wahrnehmungsmuster und letztlich um bessere Beziehungen, zu anderen, zu sich, zur Welt, zur eigenen Arbeit.
Des Weiteren ordnen wir das Thema in größere theoretische Zusammenhänge ein, wie zum Beispiel zu linearen, eschatologischen und zirkulären Zeitverständnissen, zur Megamaschine (Mumford) und Anthropocene Engine (Laubichler), zu Entfremdung und Resonanz (Rosa), Weltverhältnissen (Buber, Oldemeyer) und zu Nachhaltigkeit als kulturelles Tiefenphänomen (Parodi).
Wir sind uns dabei der Größe und Schwierigkeit des Themenfeldes bewusst, wissen um unser Eingebundensein in die beschleunigte Welt, ihrer Be- und Entlohnungsmechanismen und der daraus auch für uns resultierenden Zwänge. Insofern erhoffen wir uns keine riesigen Entschleunigungssprünge, wohl aber eine erhöhte Aufmerksamkeit und ein Problembewusstsein und kleine Fortschritte (man beachte auch hier wieder die Steigerungs- und Fortschrittsrhetorik).
Und wir wären nicht Forschende, würden wir das ganze Unterfangen nicht auch als kleines Forschungsprojekt aufsetzen. Sprich, wir begeben uns in den Selbstversuch. Wir dokumentieren Erfahrungen, sammeln Daten, reflektieren und lassen uns in unserem Ringen von außen forscherisch begleiten. In einem Jahr sollen die Ergebnisse dann publiziert werden. Vielleicht können sie Orientierung und Hilfestellung für andere bieten.
Dabei ist unser Selbstversuch Teil des KAT-Handlungsfeldes Reflexion und Kontemplation und wir sehen ihn als Teil unserer Bemühungen (?!) um (authentische) Nachhaltigkeitstransformation. Der Einstieg in die Entschleunigung fällt uns dabei nicht leicht, bedarf es doch erheblicher Anstrengung, sich gegen den Strom zu wenden, zu bremsen und ein Weniger zu versuchen. Wir stellen uns dem, nicht zuletzt in der Hoffnung, in einer bereits übervollen Welt, Raum für das Neue, wirklich Andere zu schaffen und ganz nebenbei auch unser Nachhaltigkeits- und Transformationsverständnis zu vertiefen. Wir sind gespannt, wo uns dieser Selbstversuch hinführt.